Im Koran gibt es eine Passage, in der Abraham, der Ahnherr von Juden, Christen
und Muslimen, erkennt, dass weder Sonne, Mond oder Sterne noch andere
Gottesbilder, die damals oftmals angebetet wurden, Gott sind. Er zertrümmerte
daraufhin alle Götzenbilder seines Volkes mit einer Axt.
Hamed Abdel-Samad begeisterte diese Passage im Koran. „Wenn Abraham das darf,
warum nicht auch ich?“, fragte er sich. „Auch ich habe Verstand und Sinnes-
organe.“
Doch als er seinen Vater, den großen Imam, danach fragte, wurden ihm Zweifel an
Allah verboten. In seiner Autobiographie schildert er dazu folgende Diskussion
zwischen ihm und seinem Vater:
„Ich suche nach Gott“, sagte ich.
„Gott ist nicht verloren, es besteht kein Grund, ihn zu suchen.“
„War er verloren, als Abraham ihn suchte?“
„Nein, Gott ist immer da, nichts ist vor ihm und nichts nach ihm. Er ist außerhalb
von Raum und Zeit. Abraham hat ihn gefunden, weil die Vernunft immer zu Gott
führt.
„Aber Abraham hat die Religion seines Volkes abgelehnt, warum kann ich nicht das
Gleiche tun?“
Mein Vater lächelte und sagte: „Weil das Volk Abrahams die falsche Religion hatte.
Unsere Religion aber ist die richtige.“
„Aber das Volk Abrahams glaubte doch auch, dass seine Religion dir richtige sei.
Und Abraham zerschlug alle ihre Götter mit der Axt, und sie haben ihn deshalb ins
Feuer geworfen. Kann es sein, dass unsere heutige Religion auch falsch ist?“
Mein Vater lächelte verlegen und schwieg. Schließlich fragte er: „Und warum willst
du Gott suchen?“
„Ich will wissen, wer er ist und was er mit uns vorhat.“
„Hör zu mein Sohn: Die Suche nach Gott ist eine Tugend, die Erforschung seiner
Identität aber ist eine Gotteslästerung. Denn er ist nicht wie wir, und nichts ist ihm
ähnlich.“
„Wo war er, bevor er uns zum Leben erweckte, und warum hat er uns geschaffen?“
„Gott schwebte mit seinem Thron über dem endlosen Wasser. Und er wollte erkannt
werden, deshalb hat er uns erschaffen.“
„Das heißt, Gott war einsam ohne uns?“
„Halt deinen Mund, du Sünder, Gott möge dir verzeihen!“
Mein Vater wurde vor Wut richtig rot und schrie mich an: „Hör auf mit diesem
Schwachsinn. Ich weiß nicht, wer dir diesen Unsinn ins Hirn bläst, aber glaube nicht
alles, was dir diese verrückten Derwische erzählen. Sie ziehen sich aus dem Leben
zurück und denken, dass sie mit Singen und Tanzen Gott erreichen können. Aber
Gott hat uns nicht erschaffen, um zu tanzen, sondern um die Erde zu bevölkern, um
zu arbeiten und die Herrlichkeit der Schöpfung Gottes zu erkennen. Vergiss also
diesen Schwachsinn! Und wenn ich dich noch einmal so reden höre, dann werde ich
dir das Genick brechen!“
Mein Vater ging und ließ mich mit tausend weiteren Fragen über Gott zurück. Ich
hatte keine Angst, dass mein Vater mir mein Genick brechen würde. Gewaltrhetorik
ist eine ganz gewöhnliche Sache im Dorf. Oft bedrohte mich meine Mutter, sie würde
von meinem Blut trinken, wenn ich zu spät nach Hause käme, und sie war beileibe
kein Vampir. Diese Gewaltbilder sind nur Nebenprodukte der tatsächlichen Gewalt in
unserer Gesellschaft. Mich ärgerte nur, dass mein Vater meine Zweifel nicht ertragen
konnte. Was ist denn der Unterschied zwischen ihm und dem Vater Abrahams?
Ich verstand den Ärger meines Vaters nicht. Er sagte einmal zu mir: Wenn du redest,
klingst du entweder als wärest du zehn Jahre jünger oder zehn Jahre älter.“
Vielleicht hatte er Angst, dass der Junge, der das Erlernen des Korans nächstes
Jahr abschließen sollte und bald der Imam des Dorfes sein würde, all diesen unis-
lamischen „Mist“ im Kopf hatte. Er wusste selbst, dass dieser Beruf viel Hingabe
erfordert, und machte sich nun Sorgen, ob ich dieser Aufgabe auch gewachsen war.
Oder vielleicht fühlte er sich, als wäre all seine Mühe, sein Leben, alles, wofür er
steht, sinnlos gewesen?“
Ich war elf Jahre alt und stand unter massivem Druck, den Koran vollständig aus
dem Gedächtnis rezitieren zu können, bevor ich zwölf Jahre alt wurde, wie es mein
Vater geschafft hatte.Das war für mich zugleich eine Hoffnung und eine Chance,
endlich die Welt der Erwachsenen zu betreten. Ich werde der nächste Imam sein und
jeder wird mir die Hand küssen, auch diejenigen, die mich Kreuzzüglerkind genannt
haben. Ich paukte zwar fleißig, lag aber nicht sehr gut im Zeitplan …”